12. Kapitel
Mitja, hör sofort auf damit!«, rief Nell lachend und versuchte, ihre Haare aus der kleinen Faust des Jungen zu befreien.
»Er scheint eine Vorliebe für deine Haare zu haben«, bemerkte Mikhail lächelnd von seinem Platz an dem kleinen Frühstückstisch. Die Sonne fiel strahlend zum Fenster herein und schien auf die Papiere, die er in seinem Schlafzimmer gefunden und auf denen er einen vorläufigen Stundenplan entworfen hatte.
»Ja, Haare mag er wirklich«, brummte Nell, setzte sich den Kleinen auf die Hüfte und warf einen raschen Blick zu Morag, die am Herd stand und einen Topf Suppe umrührte, während sie gleichzeitig Katja auf den Armen schaukelte. Bei ihr sah das so einfach aus, dachte Nell seufzend. Erfüllt von einer seltsamen Vorfreude, überflog Mikhail noch einmal die Namen auf dem Blatt.
Dann drehte er es um und schaute Nell an, die Mitja nun auf ihrem Schoß reiten ließ, was diesem offensichtlich Riesenspaß machte.
»Also gut, gehen wir die Namen noch einmal durch. Unterbrich mich, wenn ich was Falsches sage.«
Nell nickte, ohne ihre Augen von Mitja abzuwenden.
»Richard und Henry Granger. Einer sieben, der andere acht. Beides die Söhne des Bankiers David Granger und seiner Frau Jessica. Tabitha und Timothy Smith, Kinder des Vikars und seiner Frau, die ich gestern im Kaufladen kennen gelernt habe ...«
»Hör auf, Mikhail! Du kannst die Liste in- und auswendig!«, lachte Nell, stand auf und ging zu ihm hinüber. Grinsend drückte sie ihm Mitja in die Arme. »Wenn du deinen flinken Verstand unbedingt beschäftigen willst, dann pass doch mal kurz auf deinen Neffen auf, ja?«
Mikhail schaute seinen Neffen seufzend an. »Du wirst bald lernen, dass Frauen einem bloß Schwierigkeiten machen. Besonders wenn sie an deine Eitelkeit appellieren, weil sie etwas von dir wollen.« Mitja blickte seinen Onkel ernst an, viel zu ernst für einen Jungen von fünfzehn Monaten. Dann deutete er auf Nell, die Morag soeben die schlafende Katja abnahm, und sagte mit klarer Stimme: »Nell!«
Nell erstarrte, und auch Mikhail sah aus wie vom Donner gerührt. Abermals deutete Mitja auf Nell und sagte: »Nell!«
»Er fragt nach dir«, sagte Mikhail verblüfft. Es war nicht zu fassen: Mitja hatte gesprochen! Ein kleines Wunder! Er war soeben Zeuge eines kleinen Wunders geworden!
»Er hat meinen Namen gesagt«, sagte Nell in ebenso ehrfürchtigem Ton wie Mikhail. Morag gackerte, und Mikhail schaute erschrocken zu ihr hinüber. Fing die Alte jetzt etwa auch zu reden an? Aber es war nur ein Lachen. Immerhin mehr, als er je von ihr gehört hatte.
»Wunder über Wunder!«, lachte er. Ihm war so froh, so leicht zumute. Er hätte tanzen können. Einem Impuls folgend sprang er auf, nahm Nell und Katja in die Arme und tanzte mit ihr und Mitja einen Ringelreigen.
Nell quiekte vor Lachen, die Babys ebenso. In diesem Moment spürte Mikhail, dass er vollkommen glücklich war. Noch nie hatte er solch wunderbare Laute gehört. Ja, er war glücklich. Glücklich mit den Kindern und mit Nell, deren Augen strahlten, während er sie herumwirbelte.
»Mikhail, stopp!«, rief sie schließlich atemlos und lachend aus. Nie hatte er eine schönere, eine begehrenswertere Frau als sie gesehen, so, wie sie jetzt, in diesem Moment war. Sein Blick blieb wie von selbst an ihren lachenden Lippen haften. Was war es nur, das ihn so zu dieser Frau hinzog?
»Mikhail?«, sagte sie leise, unsicher. Er schaute ihr in die Augen. Ja, sie begehrte ihn auch, aber sie fürchtete sich vor ihren Gefühlen.
»Wie lange glaubst du, dass ich mich noch von dir fernhalten kann?«, gab er zur Antwort. Er hatte nicht vorgehabt, die Karten so einfach auf den Tisch zu legen, aber mittlerweile musste sie wissen, dass es unvermeidlich war. Noch bevor dieser Monat vorüber war, würde er Nell in seinen Armen halten, dessen war er sicher.
Sie machte sich von ihm los, nahm ihm auch Mitja wieder ab. »Du solltest jetzt besser gehen, sonst kommst du noch zu spät. Und das sollte ausgerechnet am ersten Schultag nicht passieren. Du willst schließlich nicht den Respekt der Kinder verlieren.«
Sie war seiner Frage ausgewichen, aber sie hatte recht. Er sammelte seine Papiere zusammen, nahm auch den Atlas zur Hand, den er in einem der unteren Regale in seinem Zimmer gefunden hatte und machte sich auf den Weg zur Tür.
»Ich wünsche dir einen schönen Tag!«, rief Nell ihm noch hinterher.
»Aber wo ist denn Frankreich, Mr. Belton?«
Mikhail lächelte das Mädchen mit dem entzückenden Lispeln nachsichtig an. Die elfjährige Georgina Williams war im Begriff, sich zu einer seiner Lieblingsschülerinnen zu entwickeln. Sie konnte ja nichts dafür, dass er ihrem großen Bruder am liebsten den Hals umgedreht hätte. Georgina war intelligent und aufmerksam und scheute sich nicht, Fragen zu stellen.
Mikhail deutete auf die Tafel in seinem Rücken, auf die er die Umrisse des europäischen Kontinents aufgezeichnet hatte, und sagte: »Nun, wer kann Frankreich einzeichnen?«
Sogleich schössen zwei Paar Hände hoch. Mikhail entschied sich für die dreizehnjährige Tabitha Smith, die stolz zur Tafel schritt, die Kreide zur Hand nahm und dort, wo eigentlich Spanien lag, ein Kreuz für Frankreich machte.
»Ein sehr guter Versuch, Tabitha, du bist ganz nahe dran, aber das Kreuz gehört mehr in diese Richtung«, erklärte Mikhail und zeichnete geschickt die spanisch-französische Grenze ein. Dann schrieb er Frankreich dorthin, wo es hingehörte.
»Und was ist das dann für ein Land, Mr. Belton?« Henry Granger hatte eine pummelige Hand in die Höhe gestreckt und zeigte auf Tabithas x.
Mikhail warf einen kurzen Blick auf seine Taschenuhr, dann sagte er: »Nun, wer weiß es?«
Unglaublich, wie die Zeit verflogen war. Ein wenig Rechnen, ein wenig Schönschreiben, etwas Geschichte und ein bisschen Erdkunde und schon war es fünfzehn Uhr! Zeit, nach Hause zu gehen, dachte er lächelnd.
Als Henry und sein Bruder nun begannen, die unmöglichsten Ländernamen zu rufen, musste Mikhail zusammen mit den anderen Kindern lachen.
»Nein, Richard, das ist nicht das Blumenkohlland. Obwohl, da kommt mir eine Idee, was ich euch als Hausaufgabe aufgeben werde!«
Die Klasse stöhnte, aber Mikhail ließ sich nicht beirren. Er konnte sehen, wie gespannt ihn seine Schüler ansahen.
»Heute sollt ihr eure Schiefertafeln mit nach Hause nehmen. Aber statt dass ihr euren Namen schreiben übt, möchte ich, dass jeder von euch den Namen eines Fantasielandes aufschreibt.« Als er lauter verblüffte Gesichter sah, deutete er auf Richard.
»Richard hier könnte zum Beispiel ›Blumenkohlland‹ schreiben. Aber das ist noch nicht alles. Ich möchte, dass ihr außerdem drei spezielle Eigenschaften dazuschreibt, die euer Land haben soll.«
Timothy, Tabithas kleiner Bruder, hob die Hand. »Was meinen Sie damit, Mr. Belton?«
Mikhail überlegte kurz und grinste. »Na, zum Beispiel könnte das Nationalgericht im Blumenkohlland Blumenkohlkuchen sein!«
»Igitt!«, rief die Klasse im Chor.
»Also gut, Kinder, der Unterricht ist für heute beendet!«, verkündete Mikhail, und sogleich begannen alle hektisch ihre Schulsachen zusammenzupacken. Auch Mikhail sammelte seine Papiere zusammen. Ein Kind nach dem anderen lief mit einem lauten »Auf Wiedersehen, Herr Lehrer!« aus dem Raum.
Als er aufblickte, war die Klasse leer. Nur Georgina stand unschlüssig im Unterrichtsraum, die Schiefertafel wie einen Schützschild an ihre Brust gedrückt.
»Ist noch was, Georgina?«
»Äh, nein«, flüsterte sie verlegen und biss sich auf die Lippe. Als Mikhail das sah, musste er an Nell denken. Da Georgina sich weiterhin nicht rührte, ging Mikhail zur Tür, öffnete sie weit und sagte: »Möchtest du mich ein Stück begleiten? Vielleicht fällt dir ja unterwegs noch eine Frage ein, die du mir stellen willst.«
Georgina nickte begeistert und hüpfte vor ihm durch die Tür. Dann schaute sie sich um, um sich davon zu überzeugen, dass er ihr folgte. Als sie draußen unter den anderen Leuten standen, schien Georgina ein wenig mutiger zu werden.
»Sind Sie wirklich mit Storm verheiratet, Mr. Belton?«, fragte sie schüchtern.
Mit dieser Frage hatte Mikhail am allerwenigsten gerechnet. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, ein Kind anlügen zu müssen, aber ihm blieb keine Wahl.
»Ja, Georgina, wieso fragst du?«
»Na ja ... Es ist nur ... Storm redet nicht mehr mit meinem Bruder. Eigentlich redet sie mit keinem mehr. Das sagt zumindest meine Mutter. Und, na ja, George sagt, dass sie vielleicht auch nicht mehr mit mir reden wird, obwohl ich nicht weiß, was ich ihr getan haben soll, Mr. Belton. Und sie fehlt mir, verstehen Sie? Sie ist die Einzige, die mit mir auf Bäume geklettert ist. Und die anderen lachen mich aus, wenn ich rede, aber Storm hat nie ...« Georgina hielt abrupt inne, als sei ihr die Luft ausgegangen. Sie schaute ernst zu ihm auf. »Mit Ihnen redet sie doch, oder, Mr. Belton?«
Mikhail nickte. Die Kleine wirkte so verloren, er wünschte, er könnte etwas zu ihr sagen, das sie ein wenig aufmunterte.
»Könnten Sie ihr ausrichten, dass es mir leid tut? Dass ich sie nicht böse machen wollte. Würden Sie das tun?«
Er konnte sich nicht vorstellen, was eine Elfjährige getan haben könnte, um sich Nells Zorn zuzuziehen. »Natürlich, Georgina, ich werde es ihr sagen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie böse auf dich ist, ganz ehrlich.«
Georgina machte eine skeptische Miene, doch dann strahlte sie ihn an und hüpfte in Richtung Hampton Main Farm davon.